Politik

Immanuel Kants Friedensvisionen: Realismus oder Idealismus?

Die Friedensphilosophie Immanuel Kants im Kontext des modernen Konfliktszenarios

Selten schienen die Zeiten ungünstiger für den Universalismus Immanuel Kants und speziell für seine Ideen „Zum Ewigen Frieden“ als im Jahr seines 300. Geburtstags am 22. April 2024. Vor gut zwei Jahren hat Russland die Ukraine mit der Absicht überfallen, die angeblich faschistische Regierung in Kiew zu stürzen und das Land zu annektieren. Mittlerweile tobt ein Territorialkrieg in Osteuropa, von dem man befürchten muss, dass bald weitere Länder in ihn hineingezogen werden. Im Nahen Osten hat die Terrororganisation Hamas über tausend Menschen niedergemetzelt und über zweihundert entführt, in der großen Mehrheit Zivilisten. Israel beantwortet die Anschläge mit einem Feldzug, der den Gazastreifen in Schutt und Asche legt und eine humanitäre Katastrophe ausgelöst hat. Die Vereinten Nationen, blockiert im Sicherheitsrat, zeigen sich bei alledem ohnmächtig; und die Europäische Union ist hochgradig uneins. Schlechte Zeiten also für Friedenspläne, Abrüstungsvorschläge und Verhandlungslösungen.

Dies mag für den Moment so erscheinen, und angesichts der Rhetorik aus dem Kreml ist der Wunsch nach einer militärischen Verteidigungsbereitschaft gut zu verstehen. Das von Münkler avisierte „System der fünf Mächte“, das „Weltordnungsdirektorium“, das in einer globalen Neuauflage des Konzerts der Mächte eine geopolitische Balance herstellen soll, kann jedoch nicht erreichen, was es zu erreichen verspricht: Sicherheit für ein demokratisches Europa und Entwicklungspfade zur Demokratie. Schon das erste europäische Konzert der Mächte nach dem postnapoleonischen Wiener Kongress erreichte seine Stabilität durch die Ausschaltung der demokratischen Bewegungen und fand darin sozusagen seinen Gründungsgedanken. Das Konzert der Mächte beließ den monarchischen Herrschern gleichermaßen das Recht zum Kriege und zur alleinigen Gesetzgebung, die äußere und die innere Souveränität. Es endete bekanntermaßen im Ersten Weltkrieg. Ein modernes System der fünf Mächte, bestehend aus China, Russland, Indien, den USA und der EU, dürfte den herrschenden autokratischen Trend in den USA und der EU nur weiter verstärken.

Daniel Wom Webdesign

Es ist vielleicht weniger die Angst vor dem Atomkrieg, die jüngere Generationen nicht mehr so recht kennen, als vielmehr das Unvermögen, sich eine konventionelle Eskalation vorzustellen, die Jürgen Habermas angesichts des Stellungskriegs in der Ukraine beobachtete, der ihn an die Schlachtfelder Verduns erinnerte. Als Habermas im Februar 2023 seinen zweiten Text zum Ukrainekrieg veröffentlichte, war gerade die Lieferung von Leopard-2-Panzern an die Ukraine beschlossen worden, die als kriegsentscheidend beschrieben worden waren. Heute wird über die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern gestritten, ohne die die Ukraine die Übermacht Russlands nicht ausgleichen könnte. Auf Waffe folgt Waffe. Auf die darin liegende Eskalationsgefahr wies Habermas hin und mahnte eine Verantwortung der waffenliefernden Länder an, eine solche Eskalationsspirale zu verhindern.

Auch Habermas vertrat die Position, dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren dürfe. Er machte aber zugleich darauf aufmerksam, dass Russland diesen Krieg konventionell wohl kaum verlieren werde. Bevor dies geschehe, müsste mit einem Atomschlag gerechnet werden. Wer Waffen liefere, müsse sich daher gleichzeitig für Verhandlungen einsetzen. Habermas wurde erwidert, man könne nur aus einer Position der Stärke mit Russland erfolgreich Verhandlungen führen, daher müsse der Krieg so lange geführt werden, bis Russland erschöpft sei. Ein Jahr später zeigt sich, dass die Ukraine der Erschöpfung näher ist als Russland und dass immer neue Waffensysteme und immer neue Einberufungen nötig sind, um die aktuelle Stellung zu halten. Hier zeigt sich: In einer kriegerischen Eskalationsspirale haben Despotien gegenüber Demokratien immer einen Vorteil. Demokratien müssen auf die Zustimmung der Bevölkerung bauen und können Maßnahmen nicht einfach durchsetzen. Zwar muss auch Putin überlegen, welche Belastungen er seiner Bevölkerung zumuten kann. Ihm aber nutzt der Krieg, steigern seine Eroberungen doch seine Popularität, und im Zweifelsfalle stehen ihm mehr repressive Mittel zur Verfügung als der Ukraine.

Wie aber sieht er nun aus, der Weg Immanuel Kants zum Frieden? Im ersten Präliminarartikel erklärt Kant, ein Waffenstillstand sei bloßer „Aufschub der Feindlichkeiten, nicht Friede, der das Ende aller Hostilitäten bedeutet“. Nicht der Waffenstillstand beendet also den Krieg, sondern es bedarf grundlegender Strukturen der Konfliktbearbeitung im Völkerrecht und seinen Institutionen. Kant formulierte die dazu erforderlichen Prinzipien in drei Definitivartikeln aus.

Nie war diese Position einer völkerrechtlichen Konfliktbeilegung aktueller und notwendiger. Aber nicht immer ist populär, was aktuell ist – diese Verwechslung hat die lange Zeit enthusiastische Kant-Rezeption bestimmt. Das gilt vor allem für die 1990er Jahre, als Kants Beschreibung der Französischen Republik als „ein mächtiges und aufgeklärtes Volk“ noch umstandslos auf die USA als wohlmeinender Hegemon und als Kernland eines liberalen Völkerrechts übertragen wurde. Doch seit dem 11. September 2001 und dem anschließenden Scheitern der kriegerischen Interventionen des US-geführten Westens in Afghanistan und im Irak ist diese Variante eines vermeintlichen „Endes der Geschichte“ durch Ausbreitung der Demokratie abrupt abhandengekommen. Dabei war Kant niemals Fürsprecher einer interventionistischen liberalen Weltordnung mit einem Völkerrecht der liberalen Demokratien, wie die Vertreter eines hegemonialen Liberalismus absichtsvoll interpretierten.

Kant wollte Frieden gerade auch zwischen heterogenen Regierungsformen stiften, alles andere wäre zu seiner Zeit nachgerade lächerlich gewesen. Denn, so bereits Kants Grunderkenntnis: Demokratie braucht Frieden, Krieg dagegen fördert Despotismus. Gerade deshalb kommt Putin der Krieg so entgegen, beschädigt der russische Diktator doch indirekt die Demokratie der Ukraine durch aufgeschobene Wahlen, Parteienverbote, Korruption und Not und Elend. Je länger der Krieg dauert, umso mehr werden die Ukraine (und sicher ebenso Russland) auf dem Weg zur rechtsstaatlichen Demokratie zurückgeworfen. Um diesen Kreislauf zu stoppen, bedarf es eines Waffenstillstands, der zum Ausgangspunkt weiterer Entwicklungen werden kann.

Lebt in Stuttgart und ist seit vielen Jahren freier Redakteur für Tageszeitungen und Magazine im DACH-Raum.
Schaltfläche "Zurück zum Anfang"