Die Vorwürfe rund um den Turn-Skandal in Stuttgart ziehen immer größere Kreise. Ehemalige Athletinnen erheben schwere Beschuldigungen gegen den Deutschen Turner-Bund (DTB) und die Trainingsmethoden am Bundesstützpunkt. Janine Berger, Olympia-Vierte von 2012, äußerte in der Augsburger Allgemeine, dass das Vertrauen in die Aufklärung durch den Verband nicht gegeben sei. Sie zeigt sich skeptisch hinsichtlich der Unabhängigkeit einer vom DTB eingesetzten Kommission, die nun von einer Kanzlei aus Frankfurt am Main mit der Untersuchung der Vorwürfe beauftragt wurde. Berger betont, dass die Analyse möglicher organisatorischer und systemischer Mängel notwendig sei.

Die gegenwärtigen Vorwürfe belasteten die Glaubwürdigkeit des DTB erheblich. Neben Janine Berger schildert auch Tabea Alt, eine ehemalige WM-Dritte, auf Instagram Erfahrungen mit Missbrauch im deutschen Frauenturnen. Sie und andere Turnerinnen berichten von „systematischem körperlichen und mentalen Missbrauch“ sowie katastrophalen Bedingungen am Stützpunkt in Stuttgart. Diese schweren Anschuldigungen veranlassten Ulla Koch, die frühere Bundestrainerin, ihr Amt als Vizepräsidentin des DTB vorübergehend ruhen zu lassen, um einen optimalen Aufarbeitungsprozess zu gewährleisten.

Methoden der ehemaligen Trainerin in der Kritik

Berger hinterfragt die Methoden der 69-jährigen Ulla Koch, insbesondere im Hinblick auf die Persönlichkeitsentwicklung junger Sportlerinnen. Sie stellt die besorgniserregende Frage, ob die Persönlichkeitsentwicklung beim DTB so interpretiert werden muss, dass viele Athletinnen nach ihrer Karriere therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen müssen. Berger bezieht sich auf einen Strafenkatalog, den sie und andere minderjährige Turnerinnen 2011 unterschreiben mussten. Diese Regelungen umfassten Sanktionen von Wettkampfprämien-Sperrungen bis zu Geldstrafen von 50 Euro, die sofort und ohne Wissen der Eltern zu zahlen waren.

Dazu kam ein besonders auffälliger Vorfall im Jahr 2013, als Berger und eine weitere Turnerin eine Geldstrafe von 500 Euro zahlen mussten, weil sie sich mit männlichen Jugendlichen getroffen hatten. Ulla Koch hätte diese Zahlungen als Spende an den Turnclub Deutschland gefordert, dessen Präsident ihr Ehemann ist. Auf eine Anfrage des DTB zum Strafenkatalog gab es keine Antwort.

Kritik am Verband und Notwendigkeit von Aufklärung

Die aktuelle Situation ist nicht nur ein Skandal für den DTB, sondern wirft auch größere Fragen nach der Kultur im Leistungssport auf. Studien zu interpersonaler Gewalt im Sport zeigen, dass diese ein weit verbreitetes Problem darstellt, das oft mit einem hohen Druck verbunden ist, erfolgreiche Leistungen zu bringen. Dieser Druck führt häufig zu einer Umwelt, in der psychische und physische Gewalt normalisiert werden. Die Olympische Charta verlangt eine sichere Sportumgebung, die vor Belästigung und Gewalt schützt, doch die aktuelle Situation im deutschen Frauenturnen scheint dem entgegenzustehen.

Die Entwicklungen erinnern an die großen Herausforderungen, die es im Sport gibt. In vielen Sportarten ist die Abhängigkeit von Trainern und ein Machtungleichgewicht im System weit verbreitet. Dies begünstigt nicht nur Missbrauch und Gewalt, sondern erschwert es den Opfern auch, sich zu äußern und Unterstützung zu suchen. Es ist daher unerlässlich, dass die Aufarbeitung des Turn-Skandals in Stuttgart ernst genommen wird und dass sowohl die Wissenschaft als auch die Verbände gemeinsam an diesem Thema arbeiten.