Professor Thomas Großbölting, Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, ist bei einem tragischen Zugunglück verstorben. Der anerkannte Zeithistoriker kam am 11. Februar 2025 ums Leben, als ein ICE mit 291 Insassen an einem Bahnübergang im Stadtteil Rönneburg mit einem Lastwagen kollidierte. Trotz intensiver medizinischer Behandlung im Rettungswagen erlag Großbölting seinen schweren Verletzungen. Bei diesem Vorfall wurden zudem 25 weitere Personen verletzt, darunter sechs mit mittelschweren und 19 mit leichten Verletzungen.
Großbölting, der seit 2020 die Leitung der Forschungsstelle innehatte und Professor für Neuere Geschichte/Zeitgeschichte an der Universität Hamburg war, galt als eine bedeutende Stimme in der Forschung zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt, insbesondere in kirchlichen Kontexten. Er wurde bekannt durch seine Studien, die relevante Fragen zur sexuellen Gewalt in der katholischen Kirche aufwarfen und die die Grundlage für die Erarbeitung von Präventionsmaßnahmen bildeten. Zuletzt war er in die Debatte um die Umbenennung des Hamburger Tropeninstituts involviert.
Aufarbeitung sexualisierter Gewalt
In den letzten fünf Jahren hat Großbölting maßgeblich zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche beigetragen, insbesondere als Hauptkoordinator einer Aufarbeitungsstudie für das Bistum Münster. Er bezeichnete die Entwicklungen in diesem Bereich als ambivalent. Positiv hebt er die Einführung von Präventionsprogrammen und die Schaffung strukturierter Ansätze zur Bearbeitung sexualisierter Gewalt hervor. Gleichzeitig kritisiert er jedoch die Schwierigkeiten, die es bei der Ansprache betroffener Personen gab und die Herausforderungen, die verteidigten Machtverhältnisse innerhalb der Kirche darstellten.
In einem kürzlichen Interview äußerte Großbölting, dass die Bischöfe die Hauptverantwortung für die Aufarbeitung in ihren Diözesen tragen. Trotz der initialen Unterstützung für die Studie im Bistum Münster sieht er einen Rückgang des Engagements in den letzten ein bis zwei Jahren, ausgelöst durch eine allgemeine Ermüdung gegenüber der Thematik und politischen Gegenwind gegen die Kirche. So forderte Professor Harald Dreßing eine gemeinsame Untersuchung aller 27 Diözesen anstelle individueller Gutachten, was Großbölting unterstützte. Die Notwendigkeit verschiedener wissenschaftlicher Ansätze betonte er ebenfalls.
Gesellschaftliche Hintergründe
Die Erkundung von sexualisierter Gewalt hat in Deutschland eine komplexe Geschichte. In den 70er und 80er Jahren brachte die Selbsthilfebewegung sowie die Frauenbewegung das Thema zunehmend in die öffentliche Wahrnehmung. Wissenschaftler haben bis dato oft gesellschaftliche Vorurteile verstärkt, wodurch betroffene Personen abgewertet wurden. Die Erforschung hat sich über die Jahre hinweg weiterentwickelt, von der Dokumentenanalyse hin zu persönlichen Befragungen und dem Hinblick auf die Erfahrungen von Betroffenen. Diese wissenschaftlichen Bemühungen sind entscheidend für ein vertieftes Verständnis der Ausmaße der sexualisierten Gewalt und ihr Erbe.
Großbölting betonte immer wieder, dass die Aufarbeitung nicht nur wissenschaftliche Antworten erfordert, sondern auch ein politisches Handeln notwendig ist. Die MHG-Studie, die von der Deutschen Bischofskonferenz in Auftrag gegeben wurde, hat das Ziel, das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche in Deutschland zu ermitteln und könnte als Grundlage für zukünftige Dunkelfeld-Studien zur Thematik dienen.
Die Gemeinschaft trauert um einen Wissenschaftler, der mit seinem Engagement viel zur Aufklärung und Veränderung der Strukturen innerhalb der Kirche beigetragen hat. Großbölting hinterlässt eine bedeutende Lücke, sowohl in der Wissenschaft als auch in den Debatten zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt.
Weitere Details und Hintergründe zu seinem Tod und der laufenden Debatte finden Sie auf Weser-Kurier, domradio sowie studlib.