Der Erfurter Dom birgt eine geheimnisvolle Kapelle im Nordturm, deren Lichtinszenierung bisher unbemerkt blieb. Diese versteckte Kapelle war einst so konstruiert, dass das Sonnenlicht durch ein kreisrundes Loch strahlte und das Haupt einer Marienfigur golden leuchten ließ. Physiker Burkard Steinrücken und Kirchenbauforscher Christian Wiltsch haben durch moderne Berechnungen die Sonnenaufgangs-Inszenierung rekonstruiert. Ähnlichkeiten zu den Externsteinen wurden dabei entdeckt, wo ebenfalls spekulative Theorien über Himmelsbeobachtungen kursieren.
Wiltsch postuliert, dass mittelalterliche Kirchenachsen auf die Sonnenaufgangsposition am Tag der Kirchweihe oder des Heiligen, dem die Kirche geweiht wurde, ausgerichtet waren. Diese Idee führte zu der Erkenntnis, dass auch die Kapelle im Erfurter Dom nach dieser Methode gestaltet wurde. Das Loch, durch das die Sonne auf die Marienfigur strahlte, wurde im späteren Verlauf des Baus durch eine Mauer verdeckt, und die Figur befindet sich nun im Kirchenraum.
Die Baumeister des Mittelalters waren in der Lage, horizontale Punkte für den Sonnenaufgang zu berechnen und nutzten dabei geometrische Kenntnisse aus antiken Architekturschriften. Die Erfurter Turmkapelle verrät somit nicht nur die Fähigkeiten der Erbauer, sondern auch die Bedeutung von Lichtinszenierungen und astronomischen Bezügen in sakralen Bauten. Steinrücken hofft, die rekonstruierten Lichteffekte aus dem 12. Jahrhundert zukünftig durch moderne Technik erlebbar zu machen und somit die Geschichte dieses faszinierenden Bauwerks zu bewahren.