Die Debatte um Missstände im deutschen Turnen nimmt an Schärfe zu. Pauline Schäfer-Betz, eine Spitzenturnerin, kritisiert das „wiederholte systematische Versagen“ am Bundesstützpunkt Stuttgart. Ihrer Meinung nach werden Verantwortliche durch ein dysfunktionales System gedeckt, was echte Veränderungen verhindere. Sie verweist auf ihre eigenen Erfahrungen und die schweren Vorwürfe gegen die ehemalige Trainerin Gabriele Frehse. Diese wurde von Sportlerinnen des Stützpunkts Chemnitz beschuldigt, sie im Training zu schikanieren und Medikamente ohne ärztliche Verordnung zu verabreichen. Obwohl Frehse die Vorwürfe bestritt, beendete der Deutsche Turner-Bund (DTB) die Zusammenarbeit mit ihr. Nach einem Rechtsstreit um ihre Kündigung ist sie mittlerweile Auswahltrainerin der Frauen in Österreich geworden. Die Staatsanwaltschaft Chemnitz stellte alle Ermittlungen gegen sie ein.
Schäfer-Betz betont, dass es Mut erfordere, Missstände offen anzusprechen, und dass ihre Geschichte kein Einzelfall sei. Auch die früheren Turnerinnen Tabea Alt und Michelle Timm haben öffentlich auf Missstände am Stützpunkt Stuttgart hingewiesen. Aufhebung des “systematischen körperlichen und mentalen Missbrauchs” wird gefordert. Aktive Sportlerinnen unterstützen diese Kritik und äußern, dass das System nicht ausreichend reformiert wurde. Der DTB und der Schwäbische Turnerbund kündigten eine Untersuchung an, und zwei Übungsleiter wurden vorläufig freigestellt. Doch Schäfer-Betz fordert tiefgreifende Reformen und bemängelt, dass Warnungen über Jahre hinweg nicht ernst genommen wurden.
Erfahrungen und Druck im Leistungssport
Kritik kommt nicht nur von Schäfer-Betz. Die ehemalige Turnerin Kim Janas äußert auf Instagram ähnliche Missstände und thematisiert den Druck hinsichtlich Verletzungen, Ernährung und Gewicht, dem sie während ihrer Karriere ausgesetzt war. Janas beendete ihre Laufbahn nach drei Kreuzbandrissen im Jahr 2016 und gibt an, auch acht Jahre später nicht vollständig von ihren Erfahrungen geheilt zu sein. Der tägliche Druck, Gewicht zu verlieren, wurde durch ständige Kontrollen verstärkt. Lebensmittel wie Brot, Aufstriche und Wurst wurden ihr strikt verboten, und sie fühlte sich, obwohl sie nur neun Prozent Körperfett hatte, als “dick” abgestempelt. Diese Erfahrungen und Ängste vor Schmerzen und Verletzungen wurden von mehreren Turnerinnen geteilt.
Die Berichte und Vorwürfe von Janas und anderen haben eine breite Diskussion über die Missstände im deutschen Turnen angestoßen. Der DTB hat zwar angekündigt, an der Behebung dieser Missstände zu arbeiten, jedoch zeigt sich, dass der angestrebte Kultur- und Strukturwandel Zeit in Anspruch nehmen wird. Der DTB hat sich durch Initiativen wie den Kultur- und Strukturprozess „Leistung mit Respekt“ und den Safe Sport Code an die Spitze der Reformbewegung im deutschen Sport positioniert.
Aufarbeitung und Unterstützung für Betroffene
Die Missstände im Leistungssport sind nicht neu. Bereits 2020 wurden gravierende Vorwürfe gegen den Bundesstützpunkt Chemnitz laut. Die Anlaufstelle „Anlauf gegen Gewalt“ hat sich zum Ziel gesetzt, Betroffene bei der Aufarbeitung ihrer Erfahrungen zu unterstützen. Dieser Prozess ist oft langwierig und individuell, wobei Betroffene selbst über Zeitpunkt und Form des Teilens ihrer Erlebnisse entscheiden dürfen. Unterstützung muss unkompliziert und unmittelbar sein, wobei auch Umstehende und Hinweisgebende, die Rat suchen, eine Rolle spielen.
Trotz in den letzten Jahren erzielter Fortschritte gibt es weiterhin Herausforderungen im Umgang mit den Berichten der Turnerinnen. Eine umfassende Schutzzielsetzung für Kinder und Jugendliche im Sport bis in die 2030er Jahre bleibt essenziell. Der sichere Umgang mit diesen sensiblen Themen und die Weiterentwicklung der Safe-Sport-Architektur sind erforderlich, um mehr Meldungen zu erfassen und eine nachhaltige Veränderung herbeizuführen. Die Verantwortung von Sportorganisationen umfasst die Anerkennung des Leids der Betroffenen sowie die Verbesserung bestehender Strukturen. Es bleibt abzuwarten, ob der DTB den hohen Erwartungen in der angestrebten Reform gerecht werden kann.
Informationen über die Missstände finden sich in den Berichten der Weser-Kurier, ZEIT und DOSB .