Die Diskussion um den Fall der ehemaligen britischen Kinderkrankenschwester Lucy Letby beherrscht die Titelseiten in Großbritannien. Ein Bericht des pensionierten Neonatologen Shoo Lee stellt die Schuld von Letby, die wegen mehrfachen Mordes an Neugeborenen verurteilt wurde, in Frage. Laut diesem Bericht, der von einer international zusammengesetzten Expertengruppe unterstützt wird, fanden die Experten keine Hinweise auf Mord. Stattdessen könnten die Todesfälle und Verletzungen auf natürliche Ursachen oder katastrophale Mängel im britischen Gesundheitssystem zurückzuführen sein.

Letby wurde zwischen Juni 2015 und Juni 2016 beschuldigt, auf der Neugeborenen-Intensivstation des Countess of Chester Hospital neugeborene Babys getötet zu haben, indem sie ihnen Luft und Insulin injizierte. Ihr Urteil basierte auf einer Kombination aus technischen Beweisen, statistischen Analysen und persönlichen Aufzeichnungen von Letby. Diese schweren Vorwürfe führten zu zwei Prozessen, in denen Letby schließlich in August 2023 für schuldig befunden wurde, sieben Babys ermordet und sieben weitere versucht zu haben, zu töten.

Umstrittene Verurteilung und medizinische Aspekte

Die internationale Expertengruppe, zu der auch Helmut Hummler von der European Foundation for the Care of Newborn Infants (EFCNI) gehört, überprüfte die Beweislage und kam zu dem Schluss, dass es keine medizinischen Beweise gebe, die die Vorwürfe gegenüber Letby stützen. Diese neue Einschätzung könnte auf einen der größten Justizskandale in der britischen Geschichte hindeuten, besonders vor dem Hintergrund der akuten Krise im National Health Service (NHS), wie auch Berichte über den Zustand des Gesundheitssystems zeigen.

Die Mutter eines der Opfer hat die Behauptungen der Experten scharf kritisiert und das britische Rechtssystem verteidigt. Die verheerenden Vorwürfe in Verbindung mit den besorgniserregenden Zuständen im NHS werfen jedoch Fragen auf. Richterin Kathryn Thirlwall äußerte Bedenken über die Infragestellung des Urteils, da dies zusätzlichen Kummer für die betroffenen Eltern verursachen könnte. Zweimal wurde im vergangenen Jahr ein Antrag auf Berufung abgelehnt.

NHS in der Krise

Die Berichterstattung über den Letby-Fall findet vor dem Hintergrund eines stark beanspruchten NHS statt, das nach wie vor in einer Krise steckt. Sparmaßnahmen, die Belastungen durch die Corona-Pandemie und der Brexit haben zu einem drastischen Personalmangel geführt. Patienten müssen häufig lange auf medizinische Behandlungen warten, und bei lebensbedrohlichen Notfällen kann es bis zu eineinhalb Stunden dauern, bis Hilfe eintrifft. Berichten des Royal College of Emergency Medicine zufolge starben im Dezember 2022 wöchentlich zwischen 300 und 500 Menschen aufgrund fehlender medizinischer Versorgung.

Unabhängig von den Ergebnissen der medizinischen Gutachten und der Kritik an Letbys Verurteilung bleibt die Frage nach der Verantwortlichkeit im NHS dringend. Es wird eine öffentliche Untersuchung gefordert, um die Reaktion des Krankenhauses auf die mutmaßlichen Morde zu klären. Der konservative Abgeordnete David Davis bezeichnete die Verurteilung Letbys bereits als „eine der größten Ungerechtigkeiten der modernen Geschichte“ und forderte zusätzliche Maßnahmen zur Sicherstellung der Gerechtigkeit im Gesundheitswesen.

Letby bleibt unter Verdacht in weiteren Fällen, und die Criminal Cases Review Commission (CCRC) prüft auf Antrag ihrer neuen Verteidigung alle Beweismittel, um möglicherweise die Verurteilung zu revidieren.