Am 27. Januar 2024 wird in Schleswig-Holstein an die Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Die zentrale Veranstaltung soll an der Marineschule in Flensburg stattfinden. Diese Wahl des Veranstaltungsorts stößt jedoch auf erhebliche Kritik. Der Historiker Gerhard Paul bezeichnet die Marineschule als „Täterort par excellence“. Laut Paul zog sich dort Anfang Mai 1945 ein erheblicher Teil der NS-Elite zurück, nachdem der Zweite Weltkrieg von Männern wie Großadmiral Dönitz verlängert worden war und somit viele Menschenleben gekostet hatte.
Die Kritik wird verstärkt durch Äußerungen von verschiedenen Organisationen, darunter die Heinrich-Böll-Stiftung und die Landesarbeitsgemeinschaft Gedenkstätten und Erinnerungsorte in Schleswig-Holstein. Diese Gruppen warnen davor, dass das Gedenken in einen militärischen Kontext reduziert wird. Auch die SPD-Fraktion im Schleswig-Holsteinischen Landtag äußert Bedenken und fordert eine Überprüfung des gewählten Ortes. Der Landtagssprecher versucht, diese Entscheidung zu rechtfertigen, indem er betont, dass es nicht um eine Vorwegnahme des Gedenkens an das Kriegsende gehe.
Kritik am Gedenken in Flensburg
Das inhaltliche Konzept der Gedenkveranstaltung soll sich an den Gedanken des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker orientieren. Weizsäcker, der am 15. April 2020 seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, war eine herausragende Persönlichkeit der jüngeren deutschen Geschichte. Ihm gelang es, während der Zeit der deutsch-deutschen Wiedervereinigung als Brückenbauer zu fungieren, der die Ängste und Hoffnungen der Menschen ernst nahm.
Besonders in Erinnerung bleibt seine beeindruckende Rede im Bundestag am 8. Mai 1985, die als Wendepunkt in der deutschen Erinnerungskultur angesehen wird. Weizsäcker erklärte den 8. Mai als „Tag der Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ und sprach klar die Gräueltaten gegen die Juden sowie andere marginalisierte Opfergruppen an. Diese Rede hatte eine immense Resonanz und führte zu einer verstärkten öffentlichen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands.
Die Bedeutung von Weizsäcker und seine Erbe
Die Bedeutung von Weizsäcker für die politische Kultur und das Gedächtnis der Bundesrepublik Deutschland ist unbestritten. Er erlebte nicht nur die Schrecken des Zweiten Weltkriegs, sondern setzte sich auch aktiv für ein friedliches Miteinander ein. Seine Ansprache im Bundestag wirkte weit über die damalige politische Kulisse hinaus und beeinflusste das Selbstverständnis Deutschlands nachhaltig. Weizsäcker forderte eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und wies auf die individuelle Verantwortung für die Verbrechen hin.
Die Reaktionen auf Weizsäckers Rede zeigen sich bis heute in der politischen Debatte und in der Gestaltung von Gedenkstätten. Die Marineschule in Flensburg als Ort des Gedenkens wirft somit nicht nur Fragen nach der Erinnerungskultur, sondern auch nach der Wahrnehmung und Aufarbeitung der eigenen Geschichte auf. Die gemeinsame Gestaltung der Gedenkveranstaltung mit der Jüdischen Gemeinde Flensburg soll sicherstellen, dass die Stimmen der Opfer und die Lehren aus der Vergangenheit im Mittelpunkt stehen.